Prophet Song: WINNER OF THE BOOKER PRIZE 2023
Ein Buch, das sich selbst im Weg steht
Was hätte aus diesem Buch werden können, wenn der Autor nicht zu viel gewollt hätte!
Aber der Reihe nach:
Mit wirklich großem Interesse und aufgrund des verliehenen Booker-Preises auch vielleicht mit etwas zu großen Erwartungen habe ich begonnen, mich mit dem neuen Buch von Paul Lynch zu beschäftigen. Das Thema, nämlich das Abgleiten einer Demokratie über den Populismus in eine Autokratie und über einen Bürgerkrieg in eine Diktatur hat ja durchaus aktuelle politische Bedeutung. Lynch nimmt dabei sein eigenes Heimatland Irland, um zu beschreiben, welche erschütternden Auswirkungen eine derartige Entwicklung auf das einzelne Individuum hat. Ihn interessieren dabei keine politisch-kausalen Erwägungen, er beschreibt also nicht, wie es zu dem Versagen und schließlich zum Zusammenbruch einer Demokratie kommt. Vielmehr geht es Lynch ausschließlich um die Reaktionen des Individuums auf den Wegfall jeglicher zivilisatorischer Errungenschaften, die wir alle mit einer Demokratie verbinden. Er konzentriert sich dabei hauptsächlich auf das familiäre Umfeld von Eilish, einer verheirateten Mutter von vier Kindern, deren Familie -man kann es nicht anders ausdrücken- zerstört wird.
Eine Dystopie also. Zumindest muss das der Plan für dieses Buch gewesen sein. Und Lynch gelingt es auch, auf den ersten ca. 30 Seiten eine beispiellose Beklemmung hervorzurufen, eine Art Sog in die Abgründe eines zunehmend versagenden Staatswesens. Dann aber geschieht etwas Merkwürdiges. Lynch verliert den Leser bzw. die Leserin. Die Dystopie wird artifiziell. Sie „ertrinkt“ in dem Schreibstil des Autors, der teilweise doch recht maniriert wirkt. Für die offensichtlich geplante Dystopie ist das keine gute Entwicklung. Ganze Passagen des Buchs wirken dadurch gekünstelt, das, was auch aufgrund aktueller politischer Bezüge ja durchaus reale Entwicklungen sein können, wird wie durch einen sprachlichen Filter in die Ferne gerückt.
Das Buch scheitert dadurch zwar nicht vollkommen, aber es verlässt den anfangs eingeschlagenen Weg, ohne dass der dadurch hervorgerufene Bruch für den Leser bzw. die Leserin nachvollziehbar ist. Und das ist wirklich schade, aber durchaus auch interessant, weil es zeigt, wie das sprachliche Ausdrucksvermögen eines Autors dem Gegenstand einer Erzählung im Wege stehen kann. Eine Dystopie kann man eben nicht artifiziell erzählen.
Aber dennoch: der Anfang des Buchs ist beeindruckend. Dies gilt auch für das Psychogramm der Hauptfigur Eilish. Lynch gelingt es, die Passivität, mit der Eilish trotz mehrfacher Handlungsalternativen auf die politisch dramatischen Ereignisse reagiert, so verständlich zu machen, dass man versucht ist, die Behauptung aufzustellen, dass die Mehrzahl aller betroffenen Bürger und Bürgerinnen eines Landes genau so reagiert hätte, wie Eilish das getan hat. Vielleicht ist das sogar die wichtigste Aussage in diesem Buch.
Deswegen möchte ich „Das Lied des Propheten“ auch nicht ganz schlecht schreiben und vergebe drei Sterne. Aber: was hätte aus diesem Buch werden können!
Falling apart
Ein Buch wie in Stein gemeißelt, mehr als eine Dystopie, eine nachdrückliche Warnung, eine Rede, eine Aufforderung zum Denken und Handeln, das Lied des Propheten. Parallelen lassen sich zu Krisensituationen, Gewalt, Terror, Totalitarismus ziehen und es zeigt sich, die Möglichkeit der Eskalation ist in jedem Land gegeben, hier treffen wir auf Irland als den Terrorstaat, vom Ausland aus der Ferne betrachtet.
Die grandiose, märchenhafte, poetische Sprache Paul Lynchs lässt den Roman fast wie ein Werk aus der Antike erscheinen, ein Epos, das den Menschen an sich in das Zentrum stellt, das sich mit dem Wesen von Gemeinschaft, Gesellschaft und kulturellen Errungenschaften auseinandersetzt. Die Sprache ist ein wahrer Genuss, voller Anmut und Schönheit, Parallelen zum Alten Testament werden deutlich. Aber welche biblischen Plagen und Katastrophen werden hier beschrieben!
Die Ausgangslage, die Normalität, verwandelt sich im Laufe des Romans in den Ausnahmezustand, die Grausamkeit der Situation und die immer beängstigender werdende Atmosphäre im Land werden extrem intensiv dargestellt, sie sind körperlich spürbar und das ohne exzessive Darstellungen von Gewalt oder blutigem Gemetzel.
Aus der Perspektive Eilishs, der Protagonistin, erleben wir die schleichende Umwandlung eines demokratischen Staates in eine faschistische Diktatur, in einen Unrechtsstaat, der sich Spitzeln und einer bewaffneten Miliz bedient und seine Bürger einschüchtert, quält und erpresst, sobald sie sich nicht an seine Regeln halten. Eilish, deren Ehemann Larry von der Geheimpolizei festgenommen wird, mit der wir uns identifizieren, glaubt zu Beginn an die Vernunft und das Positive im Menschen, aber schnell ist sie von der Situation überfordert und verdrängt die erschreckende Realität. Sie ist jedermann, Stellvertreterin für den Glauben an Humanismus, das Wahre, das Gute und die Vernunft.
Eilish „finds herself, wishing for a stop to spring, for the day‘s decrease, for the trees to go blind again, for the flowers to be taken back into the earth, for the world to be glassed to winter.”
Mark, ihr 16-jähriger Sohn dagegen, ist schon realistischer, er hat sich den oppositionellen Jugendlichen angeschlossen, die gegen das neue Regime protestieren und kämpfen wollen: “They hunted us down, everything has changed now, don’t you see, there can be no going back.”
Die persönliche Frage steht nicht im Vordergrund, wie man sich in welcher Situation entscheiden würde, sondern es geht um die Allgemeingültigkeit der Schrecken des Krieges, die vielen Einzelschicksale, die ständigen Entscheidungen, die es zu treffen gibt. Es gibt kein richtig oder falsch mehr für den Einzelnen, nicht jede Entscheidung kann revidiert oder bewertet werden, es ist einfach der totale Ausnahmezustand, aus seinem vorherigen Leben ist man nicht für diese Situation gewappnet. Der Fall der Familie ist kein Einzelschicksal. Angst vor Veränderung, Angst vor Verlust, Hoffnung, Erstarrung, Flucht, Panik – all diese Gefühlsregungen werden von den unterschiedlichen Figuren in unterschiedlichem Ausmaß durchlebt und man richtet sich in dem Schrecken ein und der Mensch gewöhnt sich an den neuen Status Quo.
Eine der Hauptaussagen des Romans ist im letzten Kapitel enthalten, diese schreckliche Tatsache, dieses Nebeneinander von Normalität in dem einen Land und Krieg in dem anderen, diese disparaten Lebenswelten, der pure Antagonismus. Das Glück, auf der einen Seite oder anderen Seite der Welt zu wohnen, das unverschämte Glück, im Paradies oder das Unglück, in der Hölle zu leben…
Paul Lynchs Werk hat zu Recht den Booker-Prize gewonnen und es wird neben Orwells „1984“, Atwoods „Handmaid’s Tale“ und Kafkas „Prozess“ seinen Platz einnehmen.